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Kronzeuge ohne Krone
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Zum Tod von Siegfried Schmidt-Joos
Siegfried Schmidt-Joos wurde 1936 im thüringischen Gotha geboren, dort oder im nahegelegenen Eisenach trafen wir uns oft in
den zurückliegenden dreißig Jahren; Heimat war ihm bei all seiner Weltläufigkeit wichtig. Am Fuß des Inselsbergs waren seine menschlichen und kulturellen Wurzeln. Von Gotha brach er dereinst auf,
die schillernde Welt des Jazz, Blues, die des Musicals und des Theaters, späterhin des Folk und Rock zu erobern.
In Halle an der Saale trafen sich in der Mitte der 1950er Jahre die Wege von Siegfried Schmidt-Joos und Theo Lehmann, dem gleichgesinnten Jazz- und Bluesbruder, dessen spätere Bücher „Nobody
knows…-Negro Spirituals“ und „Blues & Trouble“ Meilensteine für wissensdurstige DDR-Jazzliebhaber wurden. Aus den Nebeln der Erinnerung berichtete der (inzwischen) 91jährige Theo Lehmann vor
wenigen Tagen am Telefon davon, wie der „coole“ Sigi während des Theologenballs ans Mikrofon trat und begleitet von der heißen Jazzband den „Macky Messer“-Song schmetterte und mit diesem in
tosendem Applaus versank.
1956 lauschte Siegfried Schmidt-Joos, ebenfalls in Halle, gebannt der „Bluespredigt“ des westdeutschen Pianisten, Publizisten
und Plattensammlers Günter „Bessie“ Boas. Eine schicksalhafte Begegnung, denn als Schmidt-Joos 1957 der DDR den Rücken kehrte und von der Saale an den Main ging, fand er in der Frankfurter
Uhlandstraße bei Günter Boas eine bereichernde Bleibe. Nach dem Studium bei Adorno und Horckheimer begann ein atemberaubender beruflicher Weg zu einem der bekanntesten und profundesten
Musikjournalisten Deutschlands. Seine Rundfunksendungen bei nahezu allen ARD-Sendern setzten jahrzehntelang Maßstäbe, er avancierte zu einem Chronisten ohne Scheuklappen.
Siegfried Schmidt-Joos war mir Lehrer und Freund, ihm verdanke ich Anregungen, Einsichten und tiefe Kenntnis. In meiner Trauer
habe ich mich in den letzten Tagen eingegraben in seine Bücher, mit ermutigenden Widmungen versehen stehen sie in meinen Regalen, stets griffbereit. Die von ihm herausgegebenen IDOLE-Bändchen der
Ullstein-Serie „Populäre Kultur“ sind heute gelesen noch immer sprachliche Perlen eines (mustergültigen) Musikjournalismus (Martin Pfleiderer). Sein bahnbrechendes Rocklexikon ist Legende, „Die
Stasi swingt nicht“ ein nicht wegzudenkendes Kapitel deutsch-deutscher Jazz- und Kulturgeschichte in nicht häufig anzutreffender Klarheit.
Ich hatte das Glück, Siegfried Schmidt-Joos für die Sache des Eisenacher Lippmann+Rau-Musikarchivs zu gewinnen. Als
Kuratoriumsmitglied der Lippmann+Rau-Stiftung verlieh er kräftige Impulse und öffnete zahlreiche Türen. Während all dieser Begegnungen war mein Respekt ihm gegenüber riesig: Vor mir saß
einerseits der Gigant des Wortes, seine Art zu schreiben hat über Jahrzehnte Maßstäbe gesetzt, er war ein „Kronzeuge ohne Krone“ (so überschrieb er einst einen Artikel über den Bluesmusiker
Alexis Korner), und andererseits plauderte ich mit dem vertrauten Mentor.
Nunmehr hat das Lebenswerk dieses außergewöhnlichen Zeitzeugen einen Platz im Lippmann+Rau-Musikarchiv gefunden, nur wenige
Regalmeter entfernt von den Sammlungen seiner Weggefährten Günter Boas, Horst Lippmann und Fritz Rau.
In seinem Buch „My Back Pages“ versammelt Siegfried Schmidt-Joos (unsterbliche) Essays aus der Geschichte der populären Musik,
die oftmals die Themen Legendenbildung, Mystifikation und Tod reflektierten. In Siegfried Schmidt-Joos einleitenden „Bericht zum Buch“ fand ich folgende Sätze: „Zweiter Subtext: der Tod. Das
letzte große Abenteuer, der finale Kick. Er beschäftigt mich, seit ich ihm als Neunjähriger bei der Explosion der Panzerfaust so nahe war. Heute bin ich davon überzeugt: Jedes Leben hat seine
Zeit, und jeder Tod ist wie ein Fingerabdruck - einmalig, unverwechselbar, unkopierbar. Wann und wie er kommt, hat immer auch mit dem Leben etwas zu tun, das er krönt.“
Nunmehr ist Siegfried Schmidt-Joos in der Nacht vom ersten zum zweiten Februar 2025 in einem Berliner Krankenhaus
verstorben.
Reinhard Lorenz
Lippmann+Rau-Stiftung, Eisenach