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Es klingt wie ein Märchen: Das Plattenlabel AMIGA ist das bekannteste Musiklabel der DDR und hatte dort das Monopol auf die Produktion und Veröffentlichung von populärer Musik, von Schlager über
Volksmusik bis Rock. Nach der politischen Wende 1989/90 wurde das AMIGA-Erbe dank der Vermittlung des ehemaligen AMIGA-Mitarbeiters Jörg Stempel an BMG Ariola München verkauft, 2005 erwarb Sony
Music die AMIGA-Rechte.
Jetzt findet ein großer Teil des AMIGA-Erbes zurück in den Osten. Sony Music übergibt seine vollständige Diskografie an das Lippmann+Rau-Musikarchiv Eisenach. Das gesamte Produktionsverzeichnis
des DDR-Schallplatten-Labels AMIGA wandert somit in den Bestand des Musikarchivs in Thüringen. Auf den zirka 25.000 Karteikarten sind alle Musikproduktionen des VEB Deutsche Schallplatten
verzeichnet, die in den Jahren 1954 bis 1991 unter dem Label AMIGA produziert wurden.
Bisher keine vollständige Diskografie von AMIGA
„Die Produktionsunterlagen sollen bei uns digitalisiert und in Zusammenarbeit mit der Thüringer Universitäts- und Landespolitik (ThULB) in Jena als Datenbank der interessierten Öffentlichkeit zur
Verfügung gestellt werden“, erklärt Dr. Simon Bretschneider vom Lippmann+Rau-Musikarchiv Eisenach. „Es gibt bisher noch keine öffentlich zugängliche Diskografie des Labels AMIGA. Das gestiegene
Interesse vieler Forscher, Sammler und Musikfreunde ist uns gewiss.“ Bereits jetzt arbeite man eng mit den Universitäten Münster und
Freiburg zusammen, die aktuell zu AMIGA forschen - zum Teil in Projekten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Wichtiges Zeugnis der ostdeutschen Musikgeschichte
„Wir sind sehr erfreut, neben dem Notenarchiv des DDR-Rundfunks nun einen weiteren wichtigen Zeugen der DDR-Musikgeschichte für zukünftige Generationen bewahren zu dürfen“, sagt Stiftungsvorstand
Daniel Eckenfelder. „Das Vertrauen von Sony in unser Archiv ist auch das Ergebnis überzeugenden Sammlungsaufbaus im Lippmann+Rau-Musikarchiv, auch und gerade, was die populäre Musik im Osten
Deutschlands betrifft.“
Immer mehr junge Studierende interessieren sich für DDR-Musik
Martin Pfleiderer, Professor für Musikwissenschaft, Geschichte des Jazz und der populären Musik an der Hochschule für Musik in Weimar betreut das Lippmann+Rau-Musikarchiv wissenschaftlich. „Ich
nehme bei meinen jungen Studierenden ein stetig wachsendes Interesse an der Musik der DDR wahr“, erklärt Pfleiderer. „Umso mehr freut mich, dass wir die Möglichkeit haben, in regelmäßigen
Archivseminaren die Sammlungen, besonders aus ostdeutschen Beständen, im Lippmann+Rau-Musikarchiv Eisenach kennenzulernen. Sie haben
kulturgeschichtliche Bedeutung, deshalb müssen eine sachgerechte Erschließung, Bewahrung und Möglichkeiten der Erforschung auch zukünftig garantiert werden.“
Letzter AMIGA-Chef Jörg Stempel macht alles möglich
Möglich wurde die Übergabe des AMIGA-Unterlagen durch Jörg Stempel, jetzt festfreier Mitarbeiter bei Sony Music. Stempel war einer der letzten Mitarbeiter des DDR-Labels und versteht sich als
„Hüter des AMIGA-Schatzes“. Jetzt hat er sich in enger Absprache mit dem Thüringer Archiv dafür eingesetzt, dass Sony Music den Bestand an das Archiv für eine Digitalisierung übergibt. Somit wird
das Produktionsverzeichnis frei zugänglich für Forschung und Öffentlichkeit - ein kulturelles Erbe der DDR kommt zurück in die neuen Bundesländer.
Stempel: Popmusikalisches Erbe des Ostens in guten Händen
Jörg Stempel erklärt: „Im Jahr 1997 habe ich mit der Marke f6 (Philipp Morris) den Musik-Award aus der Taufe gehoben: ein Nachwuchswettbewerb für junge Musiker*Innen der Neuen Länder. Fritz Rau war unser Schirmherr, ein Bildungsbürger mit großer Leidenschaft für gute Musik. Wenn Sony Music und das Lippmann+Rau-Musikarchiv Eisenach heute wieder zusammenarbeiten, ist das nur folgerichtig: Ich denke, hier liegt das popmusikalische Erbe des Ostens in engagierten Händen.“
Siegfried Schmidt-Joos wurde 1936 im thüringischen Gotha geboren, dort oder im nahegelegenen Eisenach trafen wir uns oft in den zurückliegenden dreißig Jahren; Heimat war ihm bei all seiner Weltläufigkeit wichtig. Am Fuß des Inselsbergs waren seine menschlichen und kulturellen Wurzeln. Von Gotha brach er dereinst auf, die schillernde Welt des Jazz, Blues, die des Musicals und des Theaters, späterhin des Folk und Rock zu erobern.
In Halle an der Saale trafen sich in der Mitte der 1950er Jahre die Wege von Siegfried Schmidt-Joos und Theo Lehmann, dem gleichgesinnten Jazz- und Bluesbruder, dessen spätere Bücher „Nobody knows…-Negro Spirituals“ und „Blues & Trouble“ Meilensteine für wissensdurstige DDR-Jazzliebhaber wurden. Aus den Nebeln der Erinnerung berichtete der (inzwischen) 91jährige Theo Lehmann vor wenigen Tagen am Telefon davon, wie der „coole“ Sigi während des Theologenballs ans Mikrofon trat und begleitet von der heißen Jazzband den „Macky Messer“-Song schmetterte und mit diesem in tosendem Applaus versank.
1956 lauschte Siegfried Schmidt-Joos, ebenfalls in Halle, gebannt der „Bluespredigt“ des westdeutschen Pianisten, Publizisten und Plattensammlers Günter „Bessie“ Boas. Eine schicksalhafte
Begegnung, denn als Schmidt-Joos 1957 der DDR den Rücken kehrte und von der Saale an den Main ging, fand er in der Frankfurter Uhlandstraße bei Günter Boas eine bereichernde Bleibe.
Nach dem Studium bei Adorno und Horckheimer begann ein atemberaubender beruflicher Weg zu einem der bekanntesten und profundesten Musikjournalisten Deutschlands. Seine Rundfunksendungen bei nahezu allen ARD-Sendern setzten jahrzehntelang Maßstäbe, er avancierte zu einem Chronisten ohne Scheuklappen. Siegfried Schmidt-Joos war mir Lehrer und Freund, ihm verdanke ich Anregungen, Einsichten und tiefe Kenntnis.
In meiner Trauer habe ich mich in den letzten Tagen eingegraben in seine Bücher. Mit ermutigenden Widmungen versehen, stehen sie in meinen Regalen, stets griffbereit. Die von ihm herausgegebenen
IDOLE-Bändchen der Ullstein-Serie „Populäre Kultur“ sind heute gelesen noch immer sprachliche Perlen eines mustergültigen Musikjournalismus (Martin Pfleiderer). Sein bahnbrechendes Rocklexikon
ist Legende, „Die Stasi swingt nicht“ ein nicht wegzudenkendes Kapitel deutsch-deutscher Jazz- und Kulturgeschichte in nicht häufig anzutreffender Klarheit.
Ich hatte das Glück, Siegfried Schmidt-Joos für die Sache des Eisenacher Lippmann+Rau-Musikarchivs zu gewinnen. Als Kuratoriumsmitglied der Lippmann+Rau-Stiftung verlieh er kräftige Impulse und
öffnete zahlreiche Türen. Während all dieser Begegnungen war mein Respekt ihm gegenüber riesig: Vor mir saß einerseits der Gigant des Wortes. Seine Art zu schreiben hat über Jahrzehnte Maßstäbe
gesetzt, er war ein „Kronzeuge ohne Krone“ (so überschrieb er einst einen Artikel über den Bluesmusiker Alexis Korner), und andererseits plauderte ich mit dem vertrauten Mentor. Nunmehr hat das
Lebenswerk dieses außergewöhnlichen Zeitzeugen einen Platz im Lippmann+Rau-Musikarchiv gefunden, nur wenige Regalmeter entfernt von den Sammlungen seiner Weggefährten Günter Boas, Horst Lippmann
und Fritz Rau.
In seinem Buch „My Back Pages“ versammelt Siegfried Schmidt-Joos (unsterbliche) Essays aus der Geschichte der populären Musik, die oftmals die Themen Legendenbildung, Mystifikation und Tod reflektierten. In Siegfried Schmidt-Joos einleitenden „Bericht zum Buch“ fand ich folgende Sätze: „Zweiter Subtext: der Tod. Das letzte große Abenteuer, der finale Kick. Er beschäftigt mich, seit ich ihm als Neunjähriger bei der Explosion der Panzerfaust so nahe war. Heute bin ich davon überzeugt: Jedes Leben hat seine Zeit, und jeder Tod ist wie ein Fingerabdruck - einmalig, unverwechselbar, unkopierbar. Wann und wie er kommt, hat immer auch mit dem Leben etwas zu tun, das er krönt.“
Nunmehr ist Siegfried Schmidt-Joos in der Nacht vom ersten zum zweiten Februar 2025 in einem Berliner Krankenhaus verstorben.
Reinhard Lorenz
Lippmann+Rau-Stiftung, Eisenach
Vortrag von Martin Pfleiderer (HfM Weimar) anlässlich der Feier zum 80ten Geburtstag von Siegfried Schmidt-Joos im Jahre 2016 in Eisenach.
Link zum Text in der Digitalen Bibliothek Thüringen: